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Prosa Archiv
...
Wenn wir spazieren gehen - und wir sind da gewissenhaft, d. h. mindestens eine Stunde täglich - komme ich mir vor, als
führe ich einen Hund aus. Schnuppernd geht meine Frau an den Häuserwänden entlang und stößt hie und da Laute des
Wohlbehagens aus. Wie sie mir bald erklärt, sind wir dann an einem besonders wohlriechenden Kellerfenster vorbei
gegangen. Im Sommer stehen ja viele Fenster zum Auslüften offen und entströmen diesen unverwechselbaren muffigen
Geruch, den wohl jeder kennt.
Kellergerüche rangieren also bei ihr an erster Stelle. Nach relativ kurzer Zeit hat sie herausgefunden, wo sich die für sie
bestriechendsten unseres Viertels befinden. Wenn wir zum Beispiel in den Park wollen, machen wir den kleinen Umweg
über den Karlsplatz, denn dort birgt das Haus vom Fleischer Hackbraten einen köstlich würzigen Keller. Auch in der
Schulstraße, vor der neuapostolischen Kirchengemeinde verlangsamt sie ihre Schritte, um den dort ausströmenden
Kellergeruch in vollen Zügen zu genießen.
Als angenehm empfinde ich es, dass sie mir jeden Weg in unseren eigenen Keller abnimmt, um dort ihrer Nase Gutes zu
gönnen. Sie verbot mir strikt, das Fenster zu öffnen, damit ja nicht der wertvolle Geruch entströmen kann. Sie kommt nach
jedem Kellerbesuch gut gelaunt nach oben in die Wohnung und fühlt sich frisch wie nach einem Brausebad. Wahrlich,
dieser Sommer ist heiß und trocken wie kaum ein Jahr zuvor.
Sie, meine lieben Leser, werden sicher mit dem Kopf schütteln und denken: So eine Verrückte! Ich jedoch, der stets nach
den Ursachen forscht, habe herausgefunden, dass diese Vorliebe keine Laune meiner Frau ist, sondern einen Sinn hat.
Meine komplexen Untersuchungen brachten mich zu dieser Schlussfolgerung: Nur unser Kind kann die Triebkraft der
Geruchssucht meiner Frau sein. Der Embryo will sie unbedingt in den Keller locken. Und warum? Das ist doch klar! Weil er
sich einmal abkühlen möchte bei dieser Affenhitze! Nun verstehe ich auch das Verhalten meiner Frau und finde meine
Entdeckung großartig. Sie sollte unbedingt in einen Ratgeber für schwangere Frauen aufgenommen werden!
Paul Schlaumeyer
JoHanne Jastram
Der Traum
Der kleine Jan liebte sein schönes altes Bett. Das Bett war aus braunem Holz, an den Holzpfosten knabberten schon die Holzwürmer.
Der Strohsack lag auf Brettern und war schon etwas durchgelegen. Wenn der kleine Jan sich in die Kuhlen kuschelte, konnte er wunderbar
schlafen und träumen. Er träumte und träumte ...
Er träumte wie der kleine Hävelmann, aber Jan fuhr mit seinem Bett den Fluss hinunter.
Seine
Reise
begann
an
der
Quelle
in
den
Bergen.
Der
Fluss
war
ein
Flüsschen,
war
klar
und
durchsichtig.
Den
Berg
hinunter
in
die
Ebene
wand
er
sich
über
Wiesen,
machte
Kurven
und
Bogen.
Er
kam
vorbei
an
ein
Dorf.
Die
Kinder
badeten
in
seinem
klaren
Wasser
und
Angler
saßen an seinem Ufer.
Manchmal
grüßte
ihn
ein
Baum
am
Ufer
und
kitzelte
ihm
mit
seinen
Ästen
in
der
Nase.
An
der
kleinen
Stadt
wurde
das
Flüsschen
zu
einem
Fluss.
Es
bekam
Besuch
von
einem
anderen
Flüsschen
.
Das
passierte
noch
öfter.
So
wurde
aus
dem
Flüsschen
ein
Fluss
und
später
ein
Strom.
Er
kam
vorbei
an
Dörfer
und
Städte
und
zeigte
der
Landschaft
seinen
Weg.
Irgendwann
floss
er
in
das
Meer.
Manchmal
hat
es
viel geregnet oder der Schnee in den hohen Bergen taute im Frühjahr.
Dann
war
der
Fluss
nicht
mehr
klar
und
durchsichtig,
sondern
wild
und
schäumend.
Er
machte
Spaziergänge
über
die
Ufer
und
machte
die
Wiesen und manchmal auch die Häuser nass.
Der kleine Jan träumte und träumte...
Das Bett vom kleinen Jan war schon richtig alt und wurde immer älter. Je älter es wurde, desto mehr liebte es der kleine Jan.
Dann
hatte
es
schon
Schrammen
an
den
Holzpfosten,
die
Farbe
blätterte
ab.
Den
alten
Strohsack
hatte
er
schon
irgendwann
ausgewechselt, aber die Matratze hatte auch schon wieder Traumkuhlen.
Aber der große Paul drängelte und drängelte, dass der kleine Jan sich ein neues Bett kaufen sollte. Eines Tages war es dann soweit.
Alles
bitten,
betteln
und
flehen
half
dem
kleinen
Jan
nicht.
Ein
neues,
großes
Bett
wurde
in
seine
Kammer
gestellt.
Es
war
aus
schönem
hellen Holz, mit einem verstellbaren Holzrahmen und einer Latexmatratze
.
Eigentlich
hätte
der
kleine
Jan
glücklich
sein
können.
Aber
er
weinte
um
sein
altes
Bett.
Der
große
Paul
hatte
es
ihm
mit
Gewalt
weggenommen und auf den Müll geworfen. Seit diesem Tag hatte der kleine Jan das Träumen verlernt ...
Aber was ist so ein kleiner Junge ohne seine Träume. Eines Nachts hatte er wieder einen Traum. Es war wieder ein Traum vom Fluss.
Der
kleine
Jan
wälzte
sich
unruhig
in
seinem
Bett
hin
und
her.
Tagelang
hatte
es
geregnet.
Der
Fluss
war
angeschwollen.
Er
schoss
mit
aller
Kraft
den
Berg
hinunter,
riss
Bäume,
Häuser
und
Menschen
mit.
Er
gurgelte
und
tobte,
jagte
über
Brücken
und
Bahngleise
und
fühlte
sich im großen Bahnhof zu Hause wie im eigenen Bett.
Der Fluss sprach mit seinen Brüdern und Schwestern, die auch den Berg hinunter kamen.
Sie
waren
auch
wütend
und
schäumten.
Sie
überfluteten
nicht
nur
die
Dörfer
auch
die
großen
Städte
erschraken.
Dämme
brachen,
Seen
überfluteten.
Die
kleinen
Menschen
hatten
Angst,
packten
ihre
Habe
zusammen
und
flüchteten.
Andere
halfen
an
den
Deichen,
stapelten
Sandsäcke
und wollten sich vor den wilden Wassermassen schützen.
Nur ganz allmählich wurden die Flüsse ruhiger. Sie bewegten sich mit Schlamm, mitgerissenen Häusern, Bäumen und Tieren zum Meer.
Der kleine Jan erwachte und war erschrocken über seinen Traum. Sein Rücken tat weh und die Arme waren aufgeschrammt.
Er war aus seinem Bett gefallen. Vor ihm stand der große Paul.
Er
guckte
ein
bisschen
ängstlich,
aber
als
er
sah,
dass
der
kleine
Jan
sich
bewegte,
drohte
er
ihm.:
“Wir
werden
dich
zwingen.
Du
bekommst noch ein breiteres und höheres Bett. Das Bett kommt in das andere Zimmer. Hier brauche ich Platz. Gewöhne dich daran”.
Der kleine Jan rappelte sich auf und legte sich wieder in sein Bett.
Er weinte und hatte Angst vor einem noch schlimmeren Traum.
2002